Dienstag, 6. Oktober 2009

Rolys Silberscheiben des Monats Oktober

Jochen Distelmeyer: Heavy (columbia)
Mit seiner Band und deren Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft, Konflikte, Depressionen, Widerstand und Protest prägte er 17 Jahre Popgeschichte und eine ganze Generation von Künstlern. Gerade die Alben „Ich-Maschine“ (1992), „L’Etat et Moi“ (1994), „Old Nobody“ (1999) und „Testament der Angst“ (2001) haben mich stark beeinflusst. Die Texte reflektieren die eigenen Lebensverhältnisse, und ich bin meinem alten Freund Johannes immer wieder dankbar, dass er mich damals in Hamburg mit dieser Musik vertraut gemacht hat. Und auch wenn der Schock über den Verlust der vielleicht stilprägendsten Band Deutschlands tief saß, hatte sich von „Ich-Maschine“ bis „Verbotene Früchte“ ein Kreis geschlossen. Zusammen mit Andreas Herbig (u.a. Deichkind, a-ha und Udo Lindenberg) eröffnet Distelmeyer mit „Heavy“ ein neues Kapitel seines künstlerischen Schaffens und präsentiert sich einmal mehr als Songwriter der Stunde. Sein Acapella-Intro „Regen“ schlägt eine Brücke zum letzten Blumfeld-Opener „Schnee“, bevor er mit klaren Ansagen in „Wohin mit dem Hass?“ in der Tiefgarage abrockt und in „Er“ von schizoiden Doppelgängerspielchen singt. Seine erste Single „Lass uns Liebe sein“ bietet mit positivem Up-Tempo-Songwriter-Pop eine beschwingte Seelsorge. Mit „Hinter der Musik“ und „Hiob“ gibt’s massiven Rock auf die Ohren, während er sein „Jenfeld Mädchen“ mit einem Liebeslied voller Fernweh beglückt und „Murmel“ von einem Leben ohne ständige Statusmeldungen auf den sogenannten „sozialen Netzwerken“ erzählt. Neben diesem großartigen Song liebe ich vor allem die melancholische Super-Ballade „Bleiben und gehen“ mit ihren zweifelnden Gedanken und die erkenntnisreiche Ehrlichkeitshymne „Nur mit Dir“. Mit eindringlicher Klarheit und emotionaler Frische behandelt Distelmeyer die existentiell menschlichen Themen von Liebe und Glück, Verlust und Trauer, Freude und Wut vor dem Hintergrund einer Welt im Wandel. Das Schöne und Doppelbödige ist hier …

www.myspace.com/jochendistelmeyer
www.jochendistelmeyer.de
www.columbiaberlin.de


Funny van Dannen: Saharasand (jkp / warner music)
Seit 1995 kommentiert der Liedermacher aus Berlin auf eigenwillige Weise, gewürzt mit viel Sarkasmus und beißendem Witz, die politischen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten unserer Republik. Seit 1999 arbeitet er als Co-Autor mit den Toten Hosen zusammen, und zwei Jahre nach „Trotzdem Danke“ präsentiert Funny van Dannen erneut eine kurzweilige Songkollektion. Sein elftes Album gleicht fast einem Hörbuch mit 21 Kurzgeschichten über Menschen und Tiere. Große Gefühle, kleine Dramen, Politisches, Absurdes, Beiläufiges, Beobachtungen, Ernstes und Nebensächlichkeiten. Es beginnt mit einem humoristischen Rachefeldzug, bei dem er mit seiner „Katzenpissepistole“ neben Charityladies, Parteien, Hedgefondsherren, Banker, Nazis und Kriegsprofiteure ins Visier nimmt. Nachdem er in der „Pflanzendisco“ den Pflanzen beim Tanzen zugeschaut hat, berichtet er über ein Paar im Museum, das mit „Jugendstil“ nicht allzu viel anfangen kann. In „29 Marienkäfer“ hinterfragt er das Handeln der Bundesregierung kritisch, und auch „Aktienpaket“ beschäftigt sich mit der angespannten wirtschaftlichen Weltlage. Seine melancholischen Betrachtungen „Wenn die Strasse ein Fluss wäre“, „Instinkte“ und „Magnolie“ sind Chansons zum Schmunzeln, während sich der Titelsong mit rassistischen Polizisten auseinandersetzt. Die Freundin soll mit einem „Simpsons-Plakat“ überrascht werden, geht aber lieber fremd. „Samenstau“ führt zu reizbaren Männern, „Innehalten“ entspannt dann wieder, und meine Katzen denken, dass ich „auch nur ein Tier bin“. Erstklassig sind auch die Balladen „Sternschuppen“, „Wenn die Liebe sich nicht mehr lohnt“ und „Zum Leben“. Funny van Dannen ist nicht nur ein moderner Poet mit klassischen Mitteln, sondern auch ein Künstler mit feinem musikalischem Händchen. Sein Songwriter-Pop umschmeichelt obskure Geschichten.

www.myspace.com/funnyvandannen
www.funny-van-dannen.de


Harmonia & Eno ’79: Tracks & Traces (groenland / cargo)
David Bowie und The Human League berufen sich auf diese Band, die im Mai 1973 von den Cluster-Musikern Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius sowie Michael Rother (zuvor bei Kraftwerk und Neu!) gegründet wurde und nur zwei Jahre existierte. Die beiden Alben „Musik von Harmonia“ (1974) und „Deluxe“ (1975) gelten heute als Klassiker des Krautrock, wobei Harmonia eigentlich ein Vertreter der elektronischen Musik war. Im Frühsommer 1976 reiste ein gewisser Brian Eno zu gemeinsamen Sessions nach Deutschland. Elf Tage lang jammten sie gemeinsam, und 33 Jahre später liegt nun (nach der Veröffentlichung 1997) endlich eine rundum befriedigende Version eines lange verloren geglaubten Schatzes vor. Die digital remasterten 4-Spuraufnahmen von „Tracks & Traces“ klingen nicht nur erstaunlich frisch und dank des Analog-Booms auch modern, sie sind schon aus historischen Gründen interessant. Mit dem unglaublich schönen Entree „Welcome“ und dem anschließenden Track „Atmosphere“ baut sich das Werk langsam auf, bevor mit „Vamos Compañeros“ ein Groove in Gestalt eines sich wiederholenden Dampflok-Sounds heranrauscht, der von stark verzerrten Gitarren begleitet wird. Nach dem idyllischen „By The Riverside“ wird es experimentell, abstrakt und düster. „Don’t get lost on Lüneburg Heath!“, singt Brian Eno mit warnendem Zeigefinger, bevor mir das sanft wogende Klanggebilde „Sometimes in Autumn” fast 16 Minuten lang ein romantisches Lächeln auf mein Gesicht zaubert. „Almost“ dürfte wohl mein Lieblingstrack sein, bei „Les Demoiselles“ ist dann elektronischer Walzer mit melodiösen Synthies angesagt, und am Ende verstärkt „Aubade“ den Eindruck eines versöhnlichen Ausklangs. Brian Eno nannte Harmonia „die wichtigste Rockgruppe der Welt“, wobei mir hier der pastoral starke Ambient-Charakter am besten gefällt. Auf Spurensuche machen, bitte!

www.myspace.com/roedelius
www.myspace.com/gronlandrecords
www.enoweb.co.uk
www.groenland.com


Zion Train: Live As One Remixed (universal egg)
Auch nach zwei Jahrzehnten musikalischem Bestehen darf man noch immer von sich behaupten, frischen und unverbrauchten Sound abzuliefern. Der künstlerische Output dieser fantastischen Band ist kaum zu toppen, kein anderer duborientierter Act spielt international in so vielen Ländern wie Zion Train. Diese Beliebtheit verdanken sie sicher keinen stylischen Klischees, sondern ihrer Lust, Stile nach Herzenslaune zu verquicken. Nach diversen Trennungsprozessen ist Zion Train inzwischen ein Alter-Ego-Projekt von dem nach Köln übergesiedelten Mastermind Neil Perch geworden. Im Jahre 2007 wurde mit „Live as One“ der neunte Longplayer veröffentlicht, 2008 noch kurz der „Reggae Grammy“ für das beste Dub-Album abgegriffen, und nun meldet sich „The Worlds Premier Dub Act“ mit einer überarbeiteten Remixversion zurück. Neil Perch und seine Crew haben ihr Album „Live As One“ ein Mal durch die halbe Welt gereicht und von Produzenten wie Rob Smith, Digital und Dub Terror remixen lassen. Alambic Conspiracy’s „Why“ versprüht dank Paolo Baldini nun italienischen Flair, während Bungalo Dub mit mexikanischem Drum’n’Bass zum Tanz bittet. Dub Creator’s „What A Situation“ lädt zum Abdriften ein, dagegen erscheint De Niro’s Version im bassbetonten Dubstep-Gewand. „Boxes And Amps“ kommt gleich in vier Remixes und gefällt mir natürlich in der Drum’n’Bass-Variante von Dub Terror am besten. Von den drei Neuinterpretationen von „Baby Father“ sorgt Dubsync für den coolsten Drive, und „Terror Talk“ überzeugt polskamässig mit Studio As One sowie mit feinstem Drum’n’Bass von Digital & Lutin. Zion Train liefern hier ein grooviges Werk in gewohnter Spannung zwischen Heiterkeit und Nachdenklichkeit, Roots-Culture und stilistischer Experimentierfreude!

www.myspace.com/ziontraindub
www.wobblyweb.com

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