Mittwoch, 2. Dezember 2009

Cannabinoide gegen Schmerzen: Der aktuelle Stand der Forschung

Dr. med. Franjo Grotenhermen
Mitarbeiter des nova Institutes in Hürth bei Köln und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM).

Die Verwendung gegen chronische Schmerzen zählt zu den wichtigsten Einsatzgebieten von Cannabis und einzelnen Cannabinoiden. Dennoch ist die Wirksamkeit umstritten, weil sie bei akuten Schmerzen offenbar anders wirken als bei chronischen Schmerzen und sich die Ergebnisse von Tierexperimenten nur sehr beschränkt auf die Situation beim Menschen übertragen lassen.
Tierexperimente mit Ratten und Mäusen haben eindeutig ergeben, dass THC und einige andere Cannabinoide bei unterschiedlichen Schmerzformen die Symptome lindern. Klinische Studien mit Menschen sind dagegen weniger eindeutig. Im Allgemeinen haben Studien mit Patienten, die an so genannten chronischen neuropathischen Schmerzen leiden, eine analgetische Wirkung nachgewiesen, während Studien zur Wirksamkeit von Cannabinoiden bei akuten Schmerzen (zum Beispiel Schmerzen nach Operationen) meistens zu negativen Ergebnissen führten. Als neuropathisch werden Schmerzen bezeichnet, die auf einer chronischen Schädigung von Nerven basieren, beispielsweise auf Grund entzündlicher Veränderungen bei multipler Sklerose oder bei einer HIV-Infektion, bei chronischen Schmerzen nach Unfällen oder bei Phantomschmerzen.
Die schmerzlindernden Eigenschaften von Substanzen werden häufig in akuten Schmerzmodellen am Menschen untersucht. Dabei wird die Beeinflussung der Schmerzschwelle von gesunden Freiwilligen untersucht, die verschiedenen Schmerzformen, wie beispielsweise Druck oder Wärme, ausgesetzt werden. THC hatte dabei die Tendenz, entweder die Schmerzen nicht zu beeinflussen oder sogar zu verstärken. Eine solche paradoxe Schmerzzunahme ist bereits aus früheren Studien bekannt. So nahmen in einer Studie, bei der die Wirkung von THC bei einer Zahnextraktion untersucht wurde, die Schmerzen zum Teil ab, zum Teil aber auch zu. Die jüngeren Studien bestätigen die Auffassung, dass die Wirkung von THC und Cannabis bei akuten Schmerzen keine Aussage zur Wirksamkeit bei chronischen Schmerzen zulässt.
Die Ergebnisse von klinischen Studien zu chronischen und neuropathischen Schmerzen sind eindeutig. Verschiedene Medikamente auf Cannabis- bzw. Cannabinoidbasis haben in den vergangenen Jahren schmerzlindernde Wirkungen bei verschiedenen Schmerzformen ergeben. In diesen Studien wurden Cannabisextrakte, Dronabinol (THC), Nabilon und gerauchter Cannabis, entweder allein oder in Kombination mit anderen Analgetika, getestet. Beispielsweise wurde im vergangenen Jahr erstmals eine kontrollierte Studie zur Verwendung eines Cannabinoids bei der Fibromyalgie („Weichteilrheumatismus“) durchgeführt. Die Therapie erwies sich als wirksam und gut verträglich. Die Fibromyalgie zählt zu einigen Erkrankungen, von denen heute vermutet wird, dass sie zum Teil darauf beruhen, dass das körpereigene Cannabinoidsystem, das Endocannabinoidsystem, nicht ausreichend aktiv ist. Man kann sich daher leicht vorstellen, dass von außen zugeführte Cannabinoide dieses Defizit ausgleichen können. Andere Erkrankungen, bei denen solche Vermutungen auf Grund einiger Untersuchungen bestehen, sind beispielsweise Migräne und einige Formen von Epilepsie.
Allerdings kann Cannabis offenbar bei einigen Patienten mit chronischen Schmerzen auch ähnlich wie bei akuten Schmerzen schmerzverstärkend wirken. Dies wurde beispielsweise bei einigen Patienten, die an einer Querschnittslähmung litten, und THC gegen ihre Spastik erhielten, beobachtet. Bei einigen Studienteilnehmern nahmen zwar die spastischen Symptome ab, die Schmerzen jedoch zu. Dies beruht offenbar auf folgender Besonderheit: Das körpereigene Cannabinoidsystem hemmt die Übertragung einer Vielzahl von Neurotransmittern (Nervenüberträgerstoffe) im Nervensystem. Zu diesen Substanzen, die vom Endocannabinoidsystem gehemmt werden, zählen Glutamat, Serotonin, Noradrenalin, GABA, Glycin und andere. Diese Nervenüberträgerstoffe sorgen im Allgemeinen dafür, dass ein Signal von einem Nerven zum nächsten weitergeleitet wird. Das Endocannabinoidsystem hemmt allerdings grundsätzlich nicht nur erregende Nervenüberträgerstoffe sondern auch hemmende Substanzen. Beim Vorliegen von chronischen Schmerzen führt das dazu, dass Cannabinoide im Allgemeinen die Weiterleitung der Schmerzsignale sowohl im Rückenmark als auch in Gehirnzentren, die für die Schmerzverarbeitung zuständig sind, abschwächen und damit die Schmerzwahrnehmung reduzieren. In einigen Fällen hemmen Cannabinoide allerdings offenbar Systeme, die im Rückenmark ebenfalls die Schmerzweiterleitung hemmen. Diese Hemmung der Hemmung durch THC führt daher in diesen Fällen zu einer Schmerzverstärkung.
Dieser grundlegende Mechanismus erklärt, warum Cannabis und THC auch bei anderen Symptomen paradoxe Wirkungen verursachen können, beispielsweise bei einigen Personen regelmäßig Übelkeit auslösen, obwohl THC meistens die Übelkeit reduziert und bei dieser Indikation auch medizinisch verwendet wird.

Franjo Grotenhermen ist Vorstand und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin

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