Montag, 7. November 2005

Avantgarde Pop Electronica

Depeche Mode – Playing The Angel (mute)

Ich war selten so gespannt und glücklich, ein neues Album in Händen zu halten. Denn es gibt wenige Bands, die so weit vom Mainstream entfernt sind und trotzdem in den letzten beiden Jahrzehnten einen so starken Einfluss hatten. Ihre erste Aufnahme war das kultige „Photographic“, meine allererste selbst gekaufte Single 1981. Die Band aus Basildon (Essex) war trotz ihrer phänomenalen Popularität immer Außenseiter und besaß stets die außergewöhnliche Gabe, Trends zuvorzukommen und zu prägen, und gleichzeitig außerhalb der festen Parameter herrschender Moden zu bleiben. Und sie haben sich nie ins Heer der aus den 80ern übrig gebliebenen Scheintoten eingereiht. Nach all den Untergängen und Zusammenbrüchen, den Tragödien und Triumphen, nach all den Schrecken, nach all den Jahren, nach all den Songs meldet sich nun die subversivste elektronische Popband der Welt mit ihrem 11. Studioalbum „Playing The Angel” zurück – düsterer als der Vorgänger und deutlich schneller und tanzbarer sowie eingängig und doch experimentell. Ein großer Unterschied zur Vergangenheit ist, dass es das erste Album in der langen Geschichte von Depeche Mode ist, bei dem Dave Gahan mit drei Songs auch als Komponist in Erscheinung tritt. Der Opener „A Pain That I’m Used To” gibt mit wilden Gitarrenausbrüchen, sperrigen Synthieeffekten und dunklen Beats die Marschrichtung vor. Der von einer biblischen Figur handelnde Song „John the revelator“ ist der wohl überraschendste und einfach nur Ehrfurcht gebietend. Die Uptempo-Nummer „Suffer Well“ mit einem tollen Gitarren-Riff zeigt Dave gesanglich stärker als je zuvor. „The Sinner In Me“ stellt ein perfektes Gleichgewicht zwischen organischen und synthetischen Klängen her, baut sich langsam auf, um dann in einem Stakkato aus Lärm und Effekten zu gipfeln. „Precious“, die erste Singleauskopplung, ist mit ihren pulsierenden Cyber-Sounds und dem bombastischen Refrain eine typische DM-Nummer – allerdings absolut nicht representativ für das Album. Das von Martin gesungene „Macro“ ist glitzernder High-Tech-Pop mit einer umwerfenden Hookline – ganz großes Kino! „I Want It All“ wirkt in seiner bedrohlichen Moll-Stimmung wie ein TripHop-Stück aus den Tiefen der Hölle, und „Nothing’s Impossible“ ist der perfekte Soundtrack für eine gesunde Herbstmelancholie – atmosphärisch, düster und ergreifend, gespickt mit genialen Sounds. Nach dem Instrumentalstück „Introspectre“ besticht „Damaged People“, der zweite Song mit Martin Gore Vocals, durch unglaublichen Retro Sound, ebenso wie „Lilian“, einem richtig stylischen Synthie-Pop-Song, der mich an „Shake The Disease“ erinnert. Am Ende werden mit „The Darkest Star“ nochmal alle Geschütze aufgefahren, die die Synthesizer hergeben. – Dieses Album ist Rückblick und Neuerfindung in einem. Nach vorne blickend, das Ohr auf den Schienen der Zeit – denn heute fährt der Zug nach Morgen schon.

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