Dienstag, 11. Mai 2010

Rolys Silberscheiben des Monats Mai

Egotronic: Ausflug mit Freunden
(audiolith)

Kürzlich ging es gemeinsam auf die „Dorfdisko Geiselfahrt“ durch die Metropolen Doebeln, Oelde, Tannheim-Egelsee und Höhr-Grenzhausen, um im intimen Ambiente ländlicher Abgeschiedenheit vier rauschende Feste zu feiern. Und nachdem gerade Bratze’s „Korrektur nach Unten“ voll reinhaut, ballern jetzt auch Egotronic neues, heisses Material auf ihrem „Ausflug mit Freunden“ auf Liebhaber und Sympathisanten. Die No-Future-Nummer „Was soll’s“ (inkl. Fahrradlied) routiert bereits als gelungener Teaser für ihr viertes Album, dessen Cover in Anlehnung an eine alte Hammerhead-Platte schon kontroverse Wellen schlägt. Ich erinnere mich noch gut an Gladbeck ’88, als ich dachte, ich müsse da jedem sensationsgierigen Pressevertreter und Schaulustigen die Fresse einzeln polieren. Hier dagegen beteiligen sich Frittenbude, Plemo, Saalschutz, Juri Gagarin und Captain Capa, um gemeinsam mit Torsun, Endi & KT&F euch die Fresse zu polieren. Während Hits wie „Das Leben ist tödlich“, „Tonight“, „Ich hab Zeit“ und „Mehr Bass“ gleich in die Tanzbeine rauschen, knallt „Toleranz“ bzgl. Homophobie, Sexismus und Rechtsoffenheit mit besonders klarer Message. Im Gegensatz zu so manch bierselig-affirmativen Schwachmaten hierzulande trifft man beim Flaggschiff der Anti-German-Youth auf eine Combo, die nicht nur was vom Feiern versteht, sondern auch inhaltlich wachrüttelt. 10 kickende Elektro-Punk-Tracks gegen den dummdeutschen Normalzustand garantieren ein exzessives Hör- und Rave-Vergnügen. Und da niemand mehr mit ansehen kann, wieviel Kohle für das vergriffende erste Egotronic-Album bei eBay rausgehauen wird, gibt’s in der limitierten CD-Erstauflage „Die richtige Einstellung” als Gratis-Extra-CD oben drauf. Somit ist das ganze preisgünstiger, als wenn man beispielsweise vor das Ordnungsamt in Oelde uriniert, aber das nur nebenbei. Ich find’ das Album willenlos, häng’ mich nun an die Frittenbude und sehne mich nach „Katzengold”.
www.myspace.com/egotronics
www.audiolith.net


Neoangin: Say Hi To Your Neighborhood
(indigo)

Jim Avignon wurde schon als „Andy Warhol des zeitgenössischen Berlins” bezeichnet, der mit seinen pittoresken bis pikassoiden Figuren unsere Wahrnehmung von Hoch- und Subkultur, von kommerziell und underground, wunderbar aufwirbelt und uns immer wieder überrascht. Der vor einigen Jahren von Berlin nach NY umgesiedelte Pop-Art-Künstler betätigt sich als Maler, Illustrator, Comicpoet, Konzept- und Aktionskünstler. Und seit Ende der 90er veröffentlicht er unter dem Pseudonym Neoangin auch seine eigene Musik, bei der er sich als passionierter Chronist und Mitgestalter einer sich permanent erneuernden Popkultur sieht. „Say Hi To Your Neighborhood” ist bereits das neunte Neoangin-Album, doch aus den Popminiaturen der Vorgängeralben sind nun hymnische Kurzgeschichten geworden. Sie erzählen kleine und grosse Dramen, ob Kurzmitteilungen aus der „Middle Class Hell“ oder eine Vertonung der gleichnamigen Novelle Melvilles über den Kommunikationsverweigerer „Bartleby“ oder wenn einem Karrieristen in „No More Egotrippin“ die Freundschaft gekündigt wird. Auch „The Underdog“, „Smalltalkworld“, „Nature Give Up“ und „The Only One I Know“ wissen zu gefallen – das liebevoll gestaltete Cover und Booklet sowieso. Aus Bubblegum-Singalongs, einem Hauch Disco, verspielter Elektronik, obskuren New-Wave-Sounds, melancholischen Keyboardmelodien und kratzenden Gitarren collagiert Avignon hinreissende Pop-Perlen, ohne dabei seinen Lo-Fi-Charme aufzugeben. „Melancholy Pays My Rent“ – das klingt gut!
www.myspace.com/neoangin
www.neoangin.info


Quantum Leap: The Lost Tracks
(mikrolux)

Das Ende 1995 von Alex Azary gegründete Label Elektrolux heisst seit letztem Jahr Elux, das 2002 entstandene, experimentelle Sublabel hört dagegen noch immer auf den Namen Mikrolux. Und während Elux Records die Veröffentlichung von Quantum StarDubs Debut Album „Indigo“ vorbereitet, dokumentiert Mikrolux digital diesen Prozess der Transformation mit der Veröffentlichung der herausragenden Album-Trilogie „The Lost Tracks – A Retrospective Album Trilogy“, die die drei bislang unveröffentlichten Quantum Leap CDs „The Future Is Now“, „Perfect Pace“ und „Possible Flow“ beinhaltet. So kann man sich hier statt der meist knapp 80 minütigen Länge einer CD nun – MP3 sei Dank – fast dreieinhalb Stunden zurücklehnen. Diese retrospektive Veröffentlichung beinhaltet 26 sehr deepe, atmosphärische Electronica- und Downbeat-Tracks, die eine starke Hingabe zur Musik beweisen, zumal sie auf Grund der in dieser Zeit durchlebten Erfahrungen sehr persönlich und emotional geworden sind. Meine Favoriten sind „Sofa Music“,„Tristesse“, „Superiour Blue”, „Your’s And Mine …” und „A Clear Sight” – absolutes Highlight: „Autumn Warp“. So kehrt Martin Oude Kempers aka Quantum Leap nach einem fünf Jahre währenden Prozess der Klangforschung und -entwicklung, der zu seinem neuen House und Dub-Tech Project Quantum StarDub geführt hat, aus den Tiefen des holländischen Untergrunds zurück. Obwohl jedes Werk seine eigene Geschichte erzählt, verwandeln sich hier drei perfekt ausgewogene Alben zusammen in ein wirklich zeitloses Masterpiece.
www.myspace.com/mikrolux
www.mikrolux.com


Cypress Hill: Rise Up
(priority / emi)

Seit ihren ersten Gehversuchen als Musiker gelten die MCs B-Real und Sen Dog, ihr DJ und Produzent Muggs und Percussionist Bobo als Innovatoren und Abenteurer eines oftmals überraschend wertkonservativen Musikstils. Sie stammen aus Cypress Hill, einem Viertel in South Central/Los Angeles, das von Einwohnern mit lateinamerikanischen Wurzeln dominiert wird und galten so bereits Ende der 80er Jahre als erstes Rap-Sprachrohr der amerikanischen Latinos. Während Anfang der Neunziger keine Party ohne Hits wie etwa „Insane In The Brain“ denkbar war, experimentierten die HipHop-Kiffer später mit seltsamem Rap-Metal im kommerziellen Fahrwasser von Crossover-Acts wie Limp Bizkit. Nach sechs langen Jahren melden sich die Sound- und Stil-Innovatoren von Cypress Hill nun mit ihrer achten Studio-Scheibe „Rise Up“ auf der Bildfläche zurück. DJ Muggs serviert hier mit Unterstützung prominenter Kollegen wie Pete Rock durchgehend fette Beats, futuristische Sounds und immer die richtigen Samples. Neben dem ewigen Cypress-Hill-Thema Nummer 1, der Lobpreisung von Marihuana (u.a. in „Light It Up“, „Pass The Dutch“ und „K.U.S.H.“) gibt’s viel ironische Selbspreisung, forcierte Blicke über den Tellerrand, Exkurse in Politik und nachdenkliche Vergangenheitsbewältigung. An der Seite von Rage Against The Machine-Gitarrist Tom Morello, Young De, Mike Shinoda, Evidence & The Alchemist, Daron Malakian, Everlast, Pitbull & Marc Anthony gelingt den Jungs ein exzellentes Werk an der Schnittstelle von HipHop und Rock’n’Roll. Wir sehen uns am 7. Juni in Berlin. Bang Bang.
www.myspace.com/cypresshill
www.cypresshill.com


HipHop Academy Hamburg: Kopfkino
(hip hop academy hamburg)

Alle Mitglieder der im Mai 2007 gegründeten HipHop Academy Hamburg sind den traditionellen Prinzipien der HipHop Kultur verpflichtet: Offenheit, Toleranz, Anti-Rassismus und Gewaltfreiheit. Respekt ist die gemeinsame Arbeitsgrundlage. In zahlreichen Trainingskursen verschiedener Kunstformen des HipHop wie Breakdance, Rap, DJing, Beat-Producing, NuStyle, Graffiti und Beatboxing werden die Fähigkeiten der Teilnehmer systematisch ausgebaut. Der Kerngedanke ist es, eine langfristige Talentförderung anzubieten. In Zusammenarbeit mit den Workshop-Leitern Spax, Sleepwalker und Mirko Machine hat das Quintett um Rimo, Cemo, Jay Pi, EVQ und T.U.N.E. ein spannendes Konzeptalbum entwickelt, dessen textliche Bandbreite Battle Rap, deepes Storytelling, Conscious Rap und vieles mehr abdeckt. Für die Tracks haben sich die Protagonisten ausschliesslich bekannte Blockbuster als Vorlage ausgesucht, orientieren sich in ihren Texten aber nur lose am Inhalt des Originals und schaffen über die Relation zur Handlung den Sprung zu persönlichen Geschichten und Anekdoten, zu sozialkritischen und politischen Ansichten und zu HipHop relevanten Themen. Gerade „Menace II Society“, „Peace, Love & Beatbox“, „Fight Club”, „Crank”, „American History X”, „König der Löwen”, „Die Welle” und „24“ sind genau mein Ding. So läuft in 16 inhaltsreichen Tracks ein vielseitiger Film ab, dessen Soundtrack zwischen klassischem Boom-Bap und modernem HipHop-Sound groovt. Licht aus, Film ab – hier kommt „Kopfkino“, das in seiner Authentizität sicherlich auch als Live-Show zu überzeugen weiss. Hut ab vor dieser Nachwuchsschmiede!
www.myspace.com/hiphopacademyhamburg
www.hiphopacademy-hamburg.de


Suff Daddy: The Gin Diaries
(melting pot music)

Nach dem Hi-Hat Club-Beitrag „Suff Draft“ öffnete der Berliner Beatbastler Suff Daddy erst kürzlich wieder seine Hausbar und gab dreizehn Remixe und zwei eigene Tracks aus, dazu eine Brise Samples von Biggie, SV, Erykah, Guilty, Phat Kat, Nitty, Dilla, Diamond D, Audio 88, Yassin, Morlockk Dilemma und Tha Alkaholiks. Dieses schicke Download-Album „Suff Refills“ kann man sich übrigens nach wie vor im Netz kostenlos saugen. Und nach diesem Aperitif folgt nun der Hauptgang, denn Suff Daddy macht mit „The Gin Diaries“ die nächste Buddel auf. Dass dabei das gute Leben im Mittelpunkt steht, lassen Cover und Titel bereits vermuten: So geht es neben Tanqueray um schöne Frauen, gute Joints und natürlich gute Musik. Da auch Freunde nicht fehlen dürfen, hat Suff Daddy eine ganze Reihe eingeladen. So tummeln sich auf den 13 Anspielstationen illustre Gäste wie Miles Bonny, Fleur Earth, Jim Dunloop, Mar und Mariama. Neben den beseelten Vocal-Tracks stehen überwiegend ebenfalls hochklassige Instrumentals, von denen mich vor allem das oldschoolige „I Need A Break“, das relaxte „Jimmy Jazz“, das soulige „Worst Case Scenario“, das 80s infizierte „Vienna“, sowie die pianolastigen Tracks „Hospital“ und „Özdemir“ in ihren Bann ziehen. Immer wieder frischt der Sammler rarer Soul-Platten seine Neo-Boom-Bap-Beats mit Microkorg-Sounds und wunderschönen Samples auf. So liefert hier das Kölner Label Melting Pot Music 13 äusserst hörenswerte Kurzgeschichten aus dem Leben des Berliners.
www.myspace.com/suffdaddy
www.mpmsite.com


Aldubb: Let There Be Dub
(one-drop music)

Wenn er nicht im Planet Earth Studio hinter dem Mischpult sitzt, dann spielt er bei der Digital Roots Band oder bei Dark Light Drums, tritt solo im „Dubwohnzimmer“ auf oder mischt mit beim Irieland Soundsystem, das jedes Jahr das Berlin Dub Festival veranstaltet. Nun ist Aldubb auf Albumlänge in einer Art Labelschau zu hören, auch wenn man viele Stücke bereits von seinen Vinyl-Releases kennt. Dazu gesellen sich allerdings auch neuere bzw. ältere, unveröffentlichte Produktionen. Programmatisch nennt er seine Zusammenstellung „Let There Be Dub“ und beginnt die 77minütige Reise mit dem gleichnamigen Tune von Ras Perez, der auch bei „Tommy“ und „Oxymorons“ in Erscheinung tritt und die Essenz des Dub wortgewaltig destilliert. Natürlich ist auch Jah Seal mit seinem eigenwillig ruhigen Gesang dreimal mit dabei. Die 18 Tracks bestechen vor allem mit dicken Bässen und ewigen Echos und decken ein vielfältiges Spektrum ab. Neben klassisch gemixtem Rootsdub gibt es auch starke Ambient-Dub-Tracks wie „Dark Matters“ oder „Dubnium“, feine Stepper und einige schön melodiöse Vocal-Tracks. Nach anfänglichem Meeresrauschen singt die zauberhafte Kaya T mit ihrer meditativen Stimme ihre Ode an „Mother Earth“, dagegen hat Nuwella Love in „So Many Tears“ eher etwas Laszives. Zwischen den chilligen One-Drops wummert hier und da auch ein angenehmer Dubstep-Bass, der vor allem beim abschliessenden „Free Sensimilla Now!!“ mit Al Capone JJ ordentlich groovt. Meine Favoriten lauten „History“ und „Four Under The Floor”. Schön verspielt!
www.myspace.com/aldubb
www.one-drop.de


Flashbacks: If I Had My Way – Blue & Lonely
(transmitter)

Diese Aufnahmen stammen aus der Jugendzeit unserer Eltern oder Großeltern, denen während der Nazi-Zeit ein Aufenthalt im Knast oder gar KZ drohte, wenn sie beim heimlichen Abhören solcher ,entarteten’ Musiken erwischt wurden. Unter dem Titel „Flashbacks“ sind beim Transmitter Label fünf sehr interessante CDs erschienen – „If I Had My Way – Blue & Lonely“ beschäftigt sich mit dem Blues, der Ende des 19. Jahrhunderts aus den Gesängen der schwarzen Sklaven als weltliches Gegenstück zum religiösen, hoffnungsvollen Gospel entstand. In den USA wirkten sich zwischen den 20er und 40er Jahren vor allem die Unterdrückung der Afroamerikaner und die wirtschaftliche Depression neben dem alltäglichen Liebeskummer auf die Musik aus. Die ausführlichen Liner Notes geben weitere wertvolle Auskunft zur ganzen Historie. Schon 300 Jahre vor der Entstehung dieser Musikrichtung war „blue“ ein Ausdruck für Trübsal. So fragt Libby Holman in einer Aufnahme aus dem Jahr 1929: „Am I Blue?“. Stars wie Ma Rainey (die Mutter des Blues), Bessie Smith (sie soll einmal eine Gruppe des Ku Klux Klan eigenhändig in die Flucht geschlagen haben) und weitere „Patooties“, wie die Frauen respektvoll genannt wurden, wissen hier ebenso zu begeistern wie männliche Kollegen wie The Ink Spots, O‘Neil Spencer und Blind Willie Johnson. Die 24 Perlen, die im Jahre 2000 zum grossen Teil erstmals in Deutschland zu Gehör gebracht wurden, widmen sich der unglücklichen Liebe und der Sehnsucht. Für die von ihm kompilierten Flashbacks-CDs erhielt Werner Pieper aka Ronald „DJ Double R“ Rippchen 2001 als Pop-Archäologe den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Die blauen Gespenster der Trauer, Melancholie und Einsamkeit sorgen auch heute noch für Gänsehaut. Beeindruckend!
www.gruenekraft.com
www.syntropia.de

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