Dienstag, 4. Mai 2010

Legal, Illegal, Sch…egal?

Oder: Wann erwachen die Toten?

In dem Park bei mir um die Ecke stehen überall Dealer herum. Die Polizei, von der es nie genug geben wird, um alle hochzunehmen, kommt immer mal vorbei und nimmt einen oder zwei mit. Kommen die Grünen, kommen die Fernsehkameras, sind alle schnell weg. Es reicht für das Gefühl, nie sicher zu sein, doch die Geschäfte laufen. Das Gras ist teuer, für den Bürger je nach Verhandlungsgeschick zwischen acht und zwölf Euro pro Gramm. Industriegras mit großer Gewinnmarge. Gras mit vielen Stengeln und Blättern. Ein Produkt, das durch viele Hände geht, und das, irgendwo und irgendwie, nur zu einem Bruchteil des Endpreises hergestellt wird. Drogenhandel in der Öffentlichkeit? – Ein Zeichen des Wachstums in einem mehr oder weniger kontrollierten Milieu, etwas umso Auffälligeres in Zeiten der Krise.

Die Dealer geben Geld in den umliegenden Geschäften aus. Für Trinken, Essen, Klamotten, Technik und auch Schmuck. Bei nicht wenigen warten zu Hause Kinder und Frau. Ein jüngerer Ticker kauft in einem kargen Kiosk für 4 Cent ein einzelnes langes Blättchen. Ein älterer holt sich im nächsten Elektromammut den Flatscreen für zweitausend Euro. Was beim Dealer kriminelle Energie genannt wird, heißt beim legalen Händler gesteigerter Umsatz, Erfolg, so soll es immer sein.

Wer sein Gras illegal kauft, macht sich nicht bloß strafbar, sondern stiftet auch wirksame, integrationsfördernde Abgaben zugunsten geschäftstüchtiger Segmente sozial ausgegrenzter Schichten. Abgaben, die, ohne dass eine Legalisierung dazu nötig wäre, den Konsum bereits antreiben! Denn wenn man bei Menschen, die aus armen Verhältnissen stammen, die woanders gar keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit bekämen, zu überteuerten Preisen billig produziertes Hoch-Thc-Standartgras kauft, kommt das jetzt schon der Wirtschaft und dem Konsum, dem Wohlstand und der schnelllebigen Freizeitindustrie zu Gute. Wozu noch legalisieren, wo der Kern doch schon gesichert ist?
Die ökonomischen, ökologischen und legalen Dimensionen der „neuen Probleme“ haben ihren festen Platz im medialen Bewusstsein, nicht aber der Boden der Auswüchse: die sozialen Beziehungen, Strukturen, Identitäten, Bedürfnisse; die Ordnungen und Ketten um die einzelnen Seelen. Die Bild-Zeitung registriert fleißig die Blüten offener Schwarzmärkte in den Parks, auf den Straßen und den Plätzen der deutschen Großstädte. Sie nimmt diese Entäußerung eines Notstandes nicht bloß in seiner reinen Tatsächlichkeit wahr. Sie nimmt sie, zuletzt für das Beispiel Hamburg, zum Anlass, über die Wirklichkeit hinauszugehen und märchenartige Gebilde zu verbreiten: „Inzwischen ist der Wirkstoffgehalt des Krauts viel höher als vor wenigen Jahren – Marihuana ist eine gefährliche Droge!“. Tagsüber seien es „Südländer“, abends die „Schwarzafrikaner“. Kein Wort steht da über die Kunden, nichts ist über die Gründe zu erfahren. Das Gefährliche aber liegt weniger in der Substanz und den Psychen der Händler, als vielmehr in der Mutlosigkeit der Kiffenden und der gleichzeitig hohen Nachfrage nach Haschisch und Gras. Das Gefährliche liegt im Schweigen und in den Strukturen, die THC künstlich verteuern und auf allen Seiten nur den gewinnorientierten Teil des Potenzials der Pflanzen verwirklichen lassen: leidiger Schwarzmarkt, schnellblühende Pflanzen, üble Schlagzeilen, epochale Rekorde. Das Gefährliche liegt dabei darin, Zahlen und unbeweisbare Sicherheiten gegen das tägliche Leben von Millionen auszuspielen.
Immer mehr Leute sind geneigt, in dem jetzigen, bereits traditionsreichen, Zustand plötzlich ein verschärftes Problem zu sehen: Anwohner, Polizisten, Politiker, Eltern. Aber es wächst auch die Zahl jener, die sich nur teilweise und meist falsch informiert finden. Zwischen den verschiedenen Parteien, die das Thema betrifft, kann auf diese Weise keine angemessene Kommunikation, keine gemeinsame Grundlage im Bewusstsein entstehen. Die einzelnen Perspektiven ändern sich nicht und reden weiterhin stoisch aneinander vorbei, wenn sie reden. Für sich allein kann auch jeder leicht Recht behalten. Wer versteht nicht die Ängste der Eltern Heranwachsender, in deren Wohngebiet zu viele Dealer an Minderjährige verkaufen? Wer versteht nicht aufstrebende Politiker und Verwaltungsbeamte, die sich in klassischen Problemfeldern das Image eines Machers verleihen wollen? Wer versteht nicht die Befremdung und die Teilnahmslosigkeit, die selbstgerechten Vorbehalte der ausführenden Gewalt, der Polizisten, die sich beruflich zur Durchsetzung der Rechtslage gezwungen sehen? Wer versteht nicht Verkäufer, die Umsatz machen wollen? Wer versteht nicht Menschen, die zum Ausgleich der alltäglichen Entbehrungen und der Bemühungen um Produktivität eine reiche Auswahl geprüfter Genussmittel zu besseren Preisen verlangen? Wer versteht nicht, dass mehr am Kiffen dran sein könnte, als man von außen sehen kann? Macht unsere bestehende Kultur da nicht mehr kaputt, als sie entstehen lässt, auf Kosten von Leuten und Interessen, die man eigentlich kennt, denen man sich doch wenigstens öffnen könnte? Im demokratischen Staat sind an der Auslegung der freiheitlichen Grundrechte alle beteiligt. Die verantwortlichen Bürger aber geben, was die Frage der Legalisierung betrifft, gemeinsam ein Schauspiel passiver Aktivität zum Besten, in dem sich scheinbar sehr Verschiedenes zu einem eigentlich sehr festen Muster geringster Verantwortlichkeit verschränkt. Einzeln erzeugen alle Beteiligten von sich her die herrschenden Widersprüche, die Starrheit und Ohnmacht selbst. Die Mehrheit zusammen erzeugt ein Wirklichkeitskonzept in Sprache und Schweigen, in Lassen und Begehen, und jeder ist verantwortlich für den Umstand, dass junge Männer für einen lächerlichen Rausch vor Fremden auf den Boden schauen, bevor sie für sich selbst stehen lernen; dass ein weiter Teil der Bevölkerung unter hohem Aufwand Ungewisses raucht und finanziert; und dass der Mensch von seinem Gegenüber abgeschnitten ist, das vielleicht schwarz ist oder bunte Klamotten trägt und Gras raucht, oder das nur wohnen will und Steuern zahlt.

Wie viele Menschen aber sind das, die unter ständiger Bedrohung in einem Rechtsstaat leben müssen, weil sie sich ihre Vorliebe zu leben trauen.

In einem Staat, den sie ausmachen und der eigentlich ihrem Schutz dienen sollte, der ein Mittel für gemeinsame Zwecke und nicht ein von wenigen beherrschter Selbstzweck sein sollte? Und wie viele haben sich insgeheim schon mal gewünscht, vor dem Richter zu stehen und sich mal richtig über den hohen Preis der Gewissens-, Seelen- und Sinnenmarter zu beschweren, um freigesprochen zu werden? Die dann aber schweigen und lieber genügsam das Indiskutable leben, bis vielleicht andere etwas machen? Nur eines ist sicher: es läuft, wie es ist. Ungewiss ist dagegen, was passiert, wenn man Cannabis wirklich erlaubte, Produktion und Verkauf legislativ geregelt wären.
Nur Vorsicht: Eine Legalisierung ist nicht von sich selbst aus gerecht, sie ist ein Projekt von vielen, die die ganze zunehmend bewegte Welt betreffen.

Dass bei der aktuellen Faktenlage zugleich so viel unnötiger Schrecken herrscht; dass die tatsächliche Einsicht in den großen Nutzen und die reale Möglichkeit einer Legalisierung so schwach bleibt; dass der Gebrauch von Rauschhanf privat und öffentlich ein so langwieriges und dabei unverändertes „Problem“ sein kann; dass das Potenzial eines der beliebtesten Rausch- und Genussmittel auf dem Niveau von drittklassigem, nicht selten kontaminiertem Gemüse verkommt – das muss doch einen, der an die menschliche Kultur glaubt und hinschaut, bis an die Grenze des Erträglichen bedrücken. Nicht, weil nicht legal gekifft werden kann, sondern der vielen Ängstlichkeit und Unüberlegtheit wegen, der freiwilligen Abhängigkeit von egal was und bis zum Letzten, der Kleinlichkeit und Selbstsucht, des vorwegeilenden Gehorsams und der Scham, des Schweigens und Versagens vor sich und den andern.
Daher: Nieder mit dem Irrtum, man könne eine freie Meinung sich nicht wandeln lassen und wäre mehr in seiner ganzen Existenz von Wahr- oder Unwahrheiten der Welt abhängig, als durch sie zum selbständigen Denken und Handeln verpflichtet. Ein besseres Leben fängt bei dem Begehren nach und dem Erringen von Selbstverantwortung gegenüber dem Rest der Gesellschaft an, und zwar auch noch in dem Fall, in dem Cannabis längst legal wäre.

Verstecken ist nicht mehr! Nimmermehr!

Abonnieren
Benachrichtige mich bei

Schnelles Login:

0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare zeigen