Donnerstag, 30. Juni 2011

Nie wieder Zirkusdirektor

Der Hanfparadetag aus Sicht des Versammlungsleiters

04:30 Uhr
– Als mein Handy mich weckt, liege ich in der Küche auf dem Fußboden, weil alle Betten, Matratzen und Sofaplätze mal wieder von Besuchern der Hanfparade belegt sind. Egal – so richtig viel Schlaf hab ich in den letzten Tagen eh nicht gekriegt.
Bevor ich das Haus verlasse, schreibe ich meiner Mutter einen kurzen Guten-Morgen-Brief. Schließlich muss die nachher dafür sorgen, dass die Bande auch pünktlich um eins am Alex ankommt. Aber bis dahin ist noch Zeit … nur nicht für mich.

06:00 Uhr
Am Brandenburger Tor, dem Austragungsort unserer Abschlusskundgebung angekommen, besuche ich zunächst die Bühnenbauer, die die Nacht damit verbracht haben, ein paar Tonnen Aluminium, Lautsprecher und Kabel in Form zu bringen. Viel Zeit für Smalltalk bleibt allerdings nicht, weil auch die Zelt- und Messebauer, die Nutzhanfareal, Forum für Hanfmedizin und Kinderland ein Dach über dem Kopf erstellen, endlich ins Bett wollen. Kaum sind ihre LKWs in Richtung Siegessäule verschwunden, braucht der Elektriker meine Hilfe und auch für die Aufstellung der Marktstände muss jemand ein Auge haben. Schnell noch den Helfern an den Absperrungen ′nen Kaffee spendiert und weiter geht es zu den nächsten „Baustellen“.

08:00 Uhr
So nach und nach trudelt das Team ein und auch die Frühaufsteher unter den Standbetreibern erreichen die Straße des 17. Juli. Mein Telefon klingelt derweil alle fünf Minuten, weil A im Stau steht und B nicht weiß, wann C vorbeikommt, um D abzuholen. Zwischendurch gilt es im Frühstücksradio Lust auf′s Demonstrieren und Feiern zu machen und zu erklären, warum das Hanfverbot mehr schadet als nützt.

10:00 Uhr
Inzwischen gleicht das Abschlussgelände einem Ameisenhaufen. Wo man auch hinschaut, werden Stände eingeräumt und letzte Stromkabel gezogen. Als Einzelkämpfer hätte ich mir längst die Kugel gegeben, aber dank des Orga-Teams und vieler helfender Hände scheint sich das Aufbauchaos langsam zu lichten. Zeit ein paar belegte Brötchen hinter die Kiemen zu werfen und mit den frisch schichtgewechselten Cops den Tag durchzusprechen. Aber fix, immerhin wartet am Alex ein bunter Strauß neuer Probleme.

11:00 Uhr
Es mag komisch klingen, aber im Moment, in dem ich den von Polizisten und Touristen abgesehen menschenleeren Startort der Demo betrete, fällt mir eine unsichtbare Last von den Schultern. Was getan werden konnte, ist (hoffentlich) getan. Jetzt bleibt mir nur zu warten … und weiter zu telefonieren. Nach und nach füllt sich der Platz mit teils euphorischen und teils müden Gesichtern der Paradewagenbetreiber und ihrer Teams. Händeschütteln und wie-war-die-Reise-fragen gehören zu den angenehmsten meiner Aufgaben. Im Hintergrund macht die Polizei Soundcheck an der beinahe bedrohlich großen Anlage, die das Team von „Klaus der Gärtner“ angeschleppt hat und trägt so ihren Teil zum stetig wachsenden Lärmpegel bei.
Ich übe mich derweil im laut telefonieren und beruhige jene, die so langsam fürchten, es würde keiner kommen. Meinem Kennerblick sind die auffällig unauffälligen Rucksackträger, die den Platz seit einer halben Stunde umkreisen, längst aufgefallen und auch die Polizei hat schon Witterung aufgenommen. Höchste Zeit, den Kontaktbeamten noch einmal daran zu erinnern, was im Veranstaltergespräch zur Rechtswidrigkeit allgemeiner Vorkontrollen bei Demonstrationen gesagt wurde.

12:55 Uhr
Kurz vor eins ist es für die Hanfparade mal wieder fünf vor Zwölf. Auch mich befällt so kurz vor Start das Lampenfieber. Zum Glück habe ich vor lauter kleinerer und größerer Problemen, von denen keiner etwas merken darf, kaum Zeit mich zu sorgen. Gekonnt springe ich durch die erfreulich dichte Menschenmenge, um hier und da Feuer zu löschen bevor es brennt … Für‘s Händeschütteln bleibt gerade keine Zeit, egal – der Tag ist noch lang. Jetzt muss ich zum ich weiß nicht wievielten Mal an diesem Tag auf unseren Wagen klettern – endlich darf ich die Menge erlösen. Endlich beginnt die 15. Hanfparade!

14:00 Uhr
Die letzte Stunde lief gut. Mit jedem Redner und jeder Minute füllte sich der Platz. Die Polizei ist sicher noch da, aber sehen kann ich sie vor lauter Teilnehmern im Moment nicht. Einige Mutige nutzen die Gelegenheit und so kräuseln vereinzelt süßliche Rauchfahnen in den blauen Berliner Sommerhimmel. Nun noch fünf Minuten Ballett bis alle Paradewagen in der richtigen Reihenfolge stehen, ein paar Freiwillige für das Leittransparent gesucht und schon geht’s los.
Beinahe hätte ich vergessen Dr. Motte Hallo zu sagen, dem Erfinder der Loveparade, der heute den Führungswagen der Hanfparade beschallt.

15:00 Uhr
Stopp am Bundesgesundheitsministerium. Als wir in die Friedrichstraße einbiegen, bietet sich ein merkwürdiges Bild. Knapp einhundert Polizisten haben beinahe ebenso viele mit Luftballons „bewaffnete“ Cannabispatienten umzingelt. Dabei wollen die nur friedlich darauf aufmerksam machen, dass Ausnahmegenehmigungsverfahren und horrende Importgraspreise Menschenleben gefährden. Nachdem ich „meinem Polizisten“ noch einmal versichert habe, dass die zum Teil im Rollstuhl sitzenden keine Gewalttäter und keine „illegale Gegendemo“ sondern die Schwächsten unserer Mitstreiter sind, entspannt sich die Situation.
Die mit auf Karteikärtchen festgehaltenen Forderungen des SCM bestückten Ballons dürfen fliegen und die Demo wächst während der Zwischenkundgebung erneut um einige Dutzend Teilnehmer.

15:55 Uhr
Das war knapp. Gerade noch rechtzeitig erreicht der Demonstrationszug das Brandenburger Tor und damit die Abschlusskundgebung. Der Markt der Möglichkeiten haben die Touristen da schon zwei Stunden unter Beschlag genommen. Nun mischen sich zehntausende Demoteilnehmer und die tollsten Paradewagen unter sie. Als ich die Bühne für eine weitere kurze Rede betrete, habe ich Tränen in den Augen.
Viel haben wir in diesem Jahr gewagt, viel Blut und Schweiß geopfert und von hier oben sehen die vielen, vielen Hanfbegeisterten, der Lohn für all die Mühen, einfach überwältigend aus. Und dabei kommt das Beste erst noch. Ganze sechs Stunden vollgepackt mit Hanf als Rohstoff, Medizin und Genussmittel, mit Spaß, Politik und Musik stehen nun bevor.
Angefeuert von „Hemp Hemp Horray“-Rufen aus tausenden Kehlen greife ich zum Mikrofon.

22:00 Uhr
An die vergangenen Stunden habe ich kaum konkrete Erinnerungen. Meine schmerzenden Füße sagen mir, dass ich viel gelaufen sein muss und auch der Handyakku mag nicht mehr so richtig. Verschwommen ziehen glückliche Gesichter und Fetzen hunderter geführter Gespräche vor meinem geistigen Auge vorbei. Was wirklich passiert ist, erfahre ich erst in den kommenden Tagen von Bildern, Videos und den Erzählungen der Besucher. Ein „Herr Geyer“ reißt mich jäh aus den Erschöpfungsträumen. Der Kontaktbeamte der Abrüsthundertschaft will wissen, „wie lange wir noch machen“. Meine Gegenfrage, wann er denn die Schere für die Lautsprecherkabel auspacken würde, scheint als Antwort nicht zu genügen, also machen wir uns gemeinsam auf den Weg von Wagen zu Wagen und „sorgen für die Einhaltung der Nachtruhe“.
Im Kinderland wird derweil schon abgebaut. Der letzte der kleinsten Paradebesucher schläft in den Armen seiner Mutter. Und auch im Nutzhanfareal kehrt man bereits verbliebene Rohstofffans mit freundlichen Worten aus dem Zelt.
Dafür ist im Patientenraum des Forums für Hanfmedizin noch Action. Zum Glück scheint der recht junge Polizist Bedenken zu haben, kranke meist ältere Menschen „ins Bett zu schicken“. Hans Cousto verspricht ihm, dass in ein paar Minuten Schluss sei und wir können zur letzten „Lärmquelle“ weiter ziehen. „Meinen Polizisten“ (schon der vierte oder fünfte dieses Tages) zurücklassend betrete ich ein letztes Mal die Bühne und verabschiede mich im Namen des Hanfparade-Teams von den Besuchern. Mein Hinweis, die Party würde dank Hanf Journal und Soundpiraten im Yaam ja noch bis ins Morgengrauen weitergehen, versöhnt die Feierwilligen mit dem Ende der Hanfparade.

02:00 Uhr
Auf der Straße des 17.Juli erinnert vier Stunden nachdem ich „den Stecker gezogen“ habe kaum noch etwas an die Hanfparade. Flink wie nur Leute arbeiten können, die endlich ins Wochenende wollen, haben die Ameisen des Morgengrauens ihre Dämmerungsarbeit gemacht. Einzig der Abbau der Bühne scheint noch ein, zwei Stunden zu dauern. Die BSR ist längst fertig.
Der Polizei genügt die eingekehrte Beschaulichkeit und so habe auch ich endlich Feierabend.

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