Donnerstag, 31. Mai 2012

Und täglich grüßt das Murmeltier

Seit vierzig Jahren fallen täglich Heerscharen von Kurzzeit-Asylanten ins kleine Königreich der Niederlande ein, um sich im Mekka der Kiffer für ein paar Stunden von der Hetzjagd der Strafverfolgungsbehörden im eigenen Land auszuruhen. Damit soll nun Schluss sein,…

… wenn es nach dem Willen der von den Haschtouristen genervten Südholländer geht – und zwar landesweit von Fryslân bis Curaçao.

Auch wenn es kaum mehr vorstellbar ist, aber in Amsterdam gab es mal eine Zeit ohne Coffeeshops, dafür aber mit einer Straßendealerszene, wie sie die Welt nicht wieder gesehen hat. Wer sich vor vierzig Jahren ins Autochen setzte, um mal nachzugucken, was in der Grachtenstadt abgeht, den erwartete ein Abenteuer von der ersten bis zur letzten Minute – und das ohne Mobiltelefon, EC-Karte, Rollkoffer und All Inclusives-Arrangement. Besonders beschwerlich war die Anreise für die Brüder und Schwestern aus dem eingemauerten Westberlin, die auf dem Weg in die Freiheit im ungünstigsten Fall gleich fünfmal vor deutschen Grenzschützern zur Afterschau antreten durften. Hatten es die vielen Käfer, Enten und R4s samt verlausten Inhalt aber erst einmal unbeschadet bis zum Schlagbaum des Königreichs geschafft, stand dem Eintritt ins Paradies nichts mehr im Weg – außer vielleicht der Niederländische Zollmeister, der Gulden sehen wollte, sprich, ohne Urlaubskasse keine Hippies und Gammler in seine Heimat ließ.

Dann endlich – nach ganztägiger Reise durch mehrere deutsche Staaten taucht das urbane Eitergeschwür des Sittenverfalls zwischen Nordsee und Ijmeer auf. Die ersten Dealer verarzten die gierigen Neuankömmlinge bereits bei Rot an der Ampel mit Grütze, und die Parkplatzsuche endet im absoluten Halteverbot. Amsterdam anno 1972 – eine Stadt im Ausnahmezustand, die gerade dabei ist, als Sündenbabel der Neuzeit in die Weltgeschichte einzugehen. An keinem anderen Ort der westlichen Welt rasteten und strandeten mehr bunte und schräge Vögel der Hippiebewegung, um gänzlich ungeniert in den Tag hinein zu leben – geradeso wie es Eltern, Pastoren und Lehrmeister daheim verboten hatten. Die Umwertung der christlich-konservativen Werte durch die Protestkultur der 68’er-Bewegung schien in Amsterdam fast vollzogen, zumindest in den Augen der staunenden Besucher. Wer gleich alle Zehn Gebote Gottes ungestraft brechen wollte, war in der Stadt mit den schiefen Häusern genau richtig, denn dort war Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll keine Sünde, sondern pure Lebenslust nach heidnischer Art.

Auch wenn es sich die jüngere Leserschaft kaum vorstellen kann, aber es gab mal in Europa so etwas wie ein „Rotes Jahrzehnt“, in dem sich die jungen Menschen Hals über Kopf miteinander verbrüderten, zum Leidwesen der völlig überforderten Obrigkeit, die sich aus dem Nichts vor vollendete Tatsachen gestellt sah. Und diese Kiffersolidarität kam ganz ohne großes Geschrei über soziale Netzwerke aus, vielmehr reichte einfach nur die bloße physische Präsenz gepaart mit einer beachtlichen Portion Schwarmintelligenz.

In Westberlin wurden die ersten Altbauhäuser instandbesetzt, in Kopenhagen riefen Hippies und Haschischdealer den Freistaat Christiana aus und in Amsterdam rauchten schon damals die Köpfe – also die der besorgten Stadtväter. Und so kam es zu der klugen Entscheidung, statt mit Kanonen auf verlauste Hippies zu schießen, offiziell geduldete Verkaufsstellen zuzulassen, um wenigstens den Haschisch- vom Heroinmarkt zu trennen. Denn leider gab es neben den schönen Seiten der vielen „Summer of Love“ auch die dunklen. Auf der standen jene armen Seelen, denen das friedliche Beisammensein bei Mondenschein und Reggaemusik im Vondelpark nicht reichte. Amsterdam war nämlich nicht nur der Fluchtpunkt der Hanffreunde, die kuscheln wollten, sondern auch das letzte Asyl der Junkies, deren Nächstenliebe über das eigene Ich nicht hinausgeht. Für die Kinder, die am Bahnhof Zoo oder auf den öffentlichen Toiletten in Frankfurt, München oder Hamburg Hausverbot hatten, führte der Weg ins Elend zwangsläufig in die niederländische Heroinszene.

Amsterdam anno 1972 war so genial wie unerträglich, und die, die dabei waren und den Tanz auf dem Vulkan überlebt haben, denken selbstverständlich mit Wehmut an die goldene Zeit des „Roten Jahrzehnt“, als alles, aber auch alles erlaubt schien. Unvergessen sind die friedlichen Nächte im Paradiso und Melkweg, wo die Hanffreunde die Marktstände belagerten und angesichts der Vielfalt des Haschisch- und Grassortiments aus dem Staunen nicht mehr herauskamen. Die Not des Eigenbaus unter Kunstlicht war noch nicht geboren, und so lächelten Freiland-Buds aus aller Welt die Wüstenbewohner aus Deutschland an.

Die Auswahl an Haschisch kannte im Amsterdam der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts kein Limit und dürfte in die Menschheitsgeschichte als etwas eingehen, das so nur alle paar tausend Jahre vorkommt. Die Rede ist von feinsten, handgekneteten Uralt-Haschsorten, die seit über dreißig Jahren nie wieder auf dem europäischen Markt aufgetaucht sind, und deren Genuss wohl auf alle Zeiten unseren Großeltern vorbehalten bleiben wird.

1976 war es dann soweit, der Staat griff regulierend ein. Die Aussichtlosigkeit, das kleine Königreich der Beatrix drogenfrei zu bekommen, veranlasste das Parlament in Den Haag, das sich längst eingeschlichene Coffeeshop-System weitgehend zu dulden und die Strafverfolgungsbehörden anzuweisen, in Sachen Cannabis fortan nach dem Opportunitätsprinzip zu verfahren. Das war letztlich der Anfang vom Ende dessen, was zehn Jahre lang als Zukunftsvision galt. Die Straßendealer und Junkies verschwanden peu-à.peu aus dem Straßenbild und die Coffeeshops übernahmen das staatlich geduldete Hintertürgeschäft. Und das brummte, auch noch viele Jahre im Melkweg, wo man am geöffneten Fenster saß, eine fette Tüte dampfte und den Polizisten in der Wachestube gegenüber fröhlich zuwinkte.

Doch das friedliche und freizügige Miteinander der Hippies war längst Geschichte, übrig blieben nur die wackeren und charakterfesten Rastafaris. Die Trails aus dem hinteren Orient versandeten binnen kürzester Zeit, und nur selten fanden sich noch mutige Asienreisende, die einen Sonderposten Edelhasch aus Kaschmir oder Nepal mit nach Hause brachten.

Mit dem Zusammenruch des Ostblocks, der anschließenden Verengung der Welt durch die Globalisierung und der Ortung des Feindes der westlichen Hemisphäre im Orient gewann schließlich der kommerzielle Eigenbau von Cannabis mehr und mehr an Bedeutung. Die Coffeeshops heute machen ihren Umsatz mit Indoor-Gras und verfügen oftmals nur über ein kleines Sortiment orientalischer Sorten, die zumeist aus Marokko stammen, aber mit dem Hasch von anno dunnemals nicht annähernd zu vergleichen sind.

Nun – im Jahre 2012 stehen alle Zeichen auf eine Bereinigung dieser unzeitgemäßen Hinterlassenschaft der Hippiekultur. Ob es in den Niederlanden Coffeeshops gibt oder nicht, scheint jedoch nur die zu interessieren, die im kleinen Grenzverkehr Nutznießer sind oder als Einheimische aus Bequemlichkeit auf kommerzielles Gras zurückgreifen. Das Aussperren der Haschtouristen und die Registrierung der niederländischen Kiffer ist daher nur ein weiterer, vielleicht finaler Schritt hin zur Hanfprohibition, so wie es sich die Regierungen der unmittelbaren Nachbarländer im Sinne der europäischen Integration schon lange wünschen.
Der wirklich wütende Proteststurm der internationalen Kiffergemeinde ist bislang ausgeblieben, obwohl mit den Niederlanden das Musterländle verloren geht, das im Kampf gegen den internationalen Prohibitionswahnsinn bestens als Vorbild herhalten konnte.

„Völker der Welt, schaut auf dieses Land – es geht!“, das war das Totschlagargument, das jeden Anti-Hanf-Krieger entwaffnete und der Lächerlichkeit preisgab.

Wenn nun dieses über vierzig Jahre gereifte Stück „Weltkulturerbe“ ohne nennenswerten Widerstand verlorengeht, haben wir durch unser Schweigen nicht nur die Zukunft, sondern auch unsere Vergangenheit verspielt.

Bleibt offenbar nur die Hoffnung auf die nächste Generation der Hanffreunde, die eines fernen Tages erwacht und dort anknüpft, wo die Opas und Omas der Hippiezeit den Faden einst verloren haben.

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