Freitag, 5. Oktober 2012

Tun Up Di Vibes

Ein Ausflug in die jamaikanische Dancehall

Es ist 00:30. Langsam finden sich die ersten Partygäste vor dem Tor ein. Der freie Platz, der einmal pro Woche in eine Tanzfläche verwandelt wird, dient tagsüber als Parkplatz für Kunden der angrenzenden Geschäfte. Vor dem Eingangstor haben Verkäufer ihre Stände aufgebaut. Es werden Jerk Chicken gegrillt, Suppen warm gemacht und verschiedene Snacks und Getränke angeboten. Noch ist draußen mehr los als drinnen. Überall stehen kleine Grüppchen herum, die auf irgendetwas oder irgendjemand zu warten scheinen. Neuankömmlinge werden beäugt und begrüßt und nur langsam bewegen sich die Ersten Richtung Eingang.

Wirklich anstandslos Eintritt bezahlen tun die Wenigsten. Fast jeder versucht kostenlos eingelassen zu werden, was zu einer immer länger werdenden Schlange und heftigen Diskussionen mit den Türstehern führt. Auf Jamaika ist es üblich, dass bekannte Artists und ihr Gefolge keinen Eintritt zahlen. Wie groß das Gefolge ist, ist jedoch meist nicht deutlich zu sehen. Viele versuchen sich unter der Obhut eines einflussreichen Patrons hineinzuschmuggeln. Auch ist nicht jeder Sänger bekannt genug, dass es keiner wagt, ihn nach Eintrittsgeld zu fragen. In ihrer Auffassung darüber, was „bekannt genug“ bedeutet, liegen Promoter und Künstler jedoch meist weit auseinander. So sind die Diskussionen wild und laut, wobei es aber nur äußerst selten wirklich Ärger gibt.

Drinnen laufen schnulzige US-Oldies und der DJ begrüßt die Gäste. Langsam füllt sich die Dancehall. Wer etwas auf sich hält und die nötigen finanziellen Mittel besitzt, kauft eine Flasche Hennessy und einige Flaschen Soda zum Mixen. Diese werden demonstrativ auf einem Stehtisch platziert. Inzwischen laufen auch die ersten Rastas durch die Menge und rufen etwas, dass wie „Eies Eies“ klingt. Gemeint ist das Bündel Weed, das sie in der Hand halten und zum Verkauf anbieten – the Highest Grade. Abnehmer finden sie genug. In den Ecken stehen Männer, die Weed in ihrer Handfläche zerbröseln, um sich anschließend einen Spliff zu drehen.
Die rhythmische Bewegung wirkt fast schon meditativ und ist ein festes Ritual nach dem Erscheinen auf der Party.

Draußen wird mittlerweile die Parkplatzsituation immer chaotischer. Jeder versucht irgendwo einen Platz zu ergattern und sich durch energisches Hupen den Weg freizumachen. Drinnen sind inzwischen auch die verschiedenen Dancer Crews eingetroffen, die bei jeder Party zu finden sind. Sie führen ihre neusten Choreografien vor und präsentieren ihre Outfits. Es geht darum sich durch irgendetwas (und sei es noch so lächerlich) von allen anderen abzuheben. Vom Bauarbeiterhelm bis zur Riesenbrille ist alles dabei. Zwei Kameramänner laufen durch die Gegend, die scheinbar die Absicht haben, jeden einzelnen der Anwesenden zu filmen.

Während die einen vom grellen Licht der Kamera genervt sind, können es andere gar nicht erwarten, ins Rampenlicht zu gelangen und energisch gestikulierend in die Kamera zu sprechen. Das nicht jede Kamera auch mit einem Mikrofon ausgestattet ist, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Hauptsache, man erhält Aufmerksamkeit, wenn auch nur für einen Moment.

Für einen Außenstehenden sind die Dynamiken der Dancehall nicht einfach zu durchschauen, doch wer sich auskennt, weiß, dass Song nicht gleich Song und Tanzen nicht gleich Tanzen ist. Es gibt Regeln und Trends, die ständig neu entstehen und schnell überholt sind. Man muss sich schon regelmäßig auf den angesagten Dances rumtreiben, um auf dem Laufenden zu bleiben.

Zur Partyhauptzeit werden ausschließlich Dancehall Lieder gespielt und auch nur das Neuste vom Neusten. Wird ein Song zum Hit, läuft er auf jeder Party, in jedem Bus, im Radio und wird auf jedem MP3-Player rauf und runter gespielt. Dies jedoch nur für ein paar Monate – bis zum nächsten Hit.
Während die Masse tobt und feiert, hat eine Gruppe von Polizisten die Dancehall betreten und sich in Richtung DJ-Pult begeben. Dies signalisiert im Allgemeinen das Ende der Party. Heute ist es um 03:15, genau lässt sich das aber nie vorhersagen. Die Gäste sind die Prozedur gewöhnt und nehmen den plötzlichen Abbruch der Party anstandslos hin.
Doch dieses Mal werden nicht einfach alle nach Hause geschickt. Die Polizei hat sich dazu entschlossen jeden Einzelnen zu durchsuchen, bevor die Leute die Party verlassen. Niemand wird raus gelassen.

Am Tor kommt es zum Gedränge, da jeder versucht die Dancehall so schnell wie möglich zu verlassen. Wonach die Polizei genau sucht, ist unklar, doch höchstwahrscheinlich geht es um Waffen, Drogen oder bestimmte Personen, nach denen gefahndet wird. Mit schweren Maschinengewehren stehen sie vor dem Tor und tasten die Leute ab. Natürlich wird alles, was der Polizei in irgendeiner Weise missfallen könnte, vorher weggeschmissen. Die Tanzfläche ist übersät mit Joints und kleinen Tütchen, in denen sich noch Weedreste befinden. Hinter einem Mülleimer liegt ein Messer. Nur ein Youth hat sich seines Spliffs nicht mehr rechtzeitig entledigen können. Doch anstatt sich durch Entschuldigungen aus der Sache rauszuwinden, gibt er dem Polizisten großkotzige Antworten. Dieser wiederum lässt sich das nicht bieten und so landet der junge Mann kurzerhand auf der Ladefläche des Polizeilasters. Etwas bedröppelt sitzt er nun allein auf der riesigen Bank im Dunkeln und wartet auf den Abtransport.

Langsam verteilt sich die Menge. Durchsuchungen wie diese gehören für die meisten Partybesucher zur Routine und so lassen sie sich nicht davon abhalten sich mit Jerk Chicken und Getränken zu versorgen und lautstark über die Geschehnisse zu diskutieren. Nach und nach machen sich alle auf den Weg nach Hause oder zum nächsten Dance, der nur wenige Minuten Fußmarsch entfernt liegt. Nur der Youth mit der großen Klappe sitzt immer noch auf dem Laster. Seinen Freunden ist seine Abwesenheit inzwischen aufgefallen und sie haben über Handy von seiner misslichen Lage erfahren. Einer von ihnen, ein älterer Rasta, versucht die Polizisten davon zu überzeugen den Jungen gehen zu lassen. Seine Überredungskünste habe Erfolg und nach einigem Hin und Her lassen die Polizisten den Jungen gehen.

Letzten Endes habe sie Wichtigeres zu tun, als sich um solche unbedeutenden Fälle zu kümmern. Seine Freunde sammeln ihn auf und ziehen mit ihm los, nicht ohne sich gehörig über ihn lustig zu machen. Und so leert sich die Gegend. Zurück bleiben nur eine Menge Müll und die Straßenverkäufer, die ihre Stande abbauen. Nächste Woche werden sie wiederkommen, dann wird das Spektakel von Neuem beginnen.

Wie jede Woche …

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